Wiedergelesen und weiterverarbeitet

Bad Hersfeld liest ein Buch – eine tolle Idee: In jedem Jahr sucht eine Jury aus Vorschlägen von Bürgern ein Buch aus, zu dem es eine Veranstaltungsreihe gibt. In Bad Hersfeld wurde diese Idee, die eigentlich ihren Ursprung in den USA hat, seit 2002 in jedem Jahr mit ganz unterschiedlichen Büchern umgesetzt. Im Reformationsjubiläumsjahr 2017 war es erstmals kein Roman, sondern das Buch der Bücher, die Bibel.

Auch in diesem, dem „Pandemie-Jahr“ wurde ein Buch ausgewählt, zu dem es eine Vielzahl von Veranstaltungen mit unterschiedlichen Akteuren und Blickwinkeln geben sollte. Und welches Buch eignet sich besser als Albert Camus‘ Romanklassiker „Die Pest“? Jetzt wurde die Fiktion im wahrsten Sinn des Wortes von der Realität eingeholt.

Durch den Lockdown können leider die vielen wunderbaren Veranstaltungen, die mit so viel Liebe und Begeisterung geplant wurden, nicht mehr stattfinden. Aber wer den Flyer aufmerksam liest, stellt fest, dass nicht alles abgesagt ist. Es gibt zwei digitale Veranstaltungsformate, die den Roman aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchten und die trotzdem stattfinden können.

Schülerinnen und Schüler der Bad Hersfelder Gesamtschule Obersberg arbeiten gerade an kleinen Videofilmen, in denen sie sich mit dem Roman auseinandersetzen. Dabei spielt Playmobil eine Rolle, aber es gibt auch noch andere Corona-konforme Ideen, die derzeit in der Umsetzung sind. Man darf sicher gespannt auf die kreativen Leistungen der Schülerinnen und Schüler sein. Die Videos werden am 6., 13. und 20. November jeweils ab 13 Uhr auf dem Youtube-Kanal der Schule veröffentlicht.

Ja, und dann gibt es noch unsere kleine Podcast-Reihe, die momentan zwei Folgen hat. Die dritte entsteht gerade neben mir, während ich diesen Text hier schreibe. Ich weiß nicht, was es war. Aber irgendein Impuls hat mich beim Treffen der „Lesepat*innen“ dazu getrieben, mich in dem Moment zu melden, in dem die Koordinatorin fragte, ob es jemanden gäbe, der ein digitales Format plane. Vielleicht war es die abschreckende Wirkung der Vorstellung in Corona-Zeiten als Privatperson für die Umsetzung von Hygienekonzepten in einer von der Stadt initiierten Veranstaltung verantwortlich zu sein. Vielleicht war es aber auch der Wunsch, etwas zu machen, bei dem wir nicht abhängig von anderen sind und unsere Ideen einfach so umsetzen zu können, wie wir es für richtig halten.

Gepodcastet hatte ich bis dahin noch nicht. Auf dem grandiosen Histocamp des Vereins Open History e.V. (ein toller Verein – unbedingt Mitglied werden!) hatte ich zwar der großartigen Nora Hespers (@fraunora) schon mal beim Live-Podcasten über die Schulter geschaut (den Podcast „Was denkst du denn?“, den sie mit der Philosophin Rita Molzberger macht, kann und will ich an dieser Stelle im Übrigen allerwärmstens empfehlen – das ist keine Schleichwerbung, sondern pure Qualität!) und ein paar Tipps gab es in einer anderen Session des Barcamps von ihr noch dazu. Das mal auszuprobieren, hat mich schon länger gereizt und damit stand es für mich schnell fest: Mein „digitales Format“ wird ein Podcast.

Mein großes Glück: Der Verbündete, den ich dafür brauche, war direkt zur Hand. Es ist mir gelungen, meinen Mann spontan für dieses Vorhaben zu gewinnen, obwohl er damals nicht genau wusste, was ein Podcast ist und wie er funktioniert. Wir haben dann sofort angefangen zu lesen und schnell gemerkt, dass dieses Buch extrem vielschichtig ist und viele Ansatzpunkte für eine Reflexion bietet, die über eine konventionelle Lesung weit hinausgehen. Ideen hatten wir einige. Und das tolle: Es brauchte nicht viele Voraussetzungen, um zur Umsetzung schreiten zu können. Die erste Folge mit dem Titel „Zuerst die Ratten …“, die eine kleine Einführung zum Roman und zum Kontext bietet, war schnell geschrieben. Ein Aufnahmegerät war vorhanden und damit war es nur ein kurzer Weg von der Idee zur Umsetzung. In der zweiten Folge „Ins Leere geschrieben …“ konnten wir unserer Kreativität dann schon mehr Raum lassen. Es entstanden fiktive Briefe, mit der wir das Geschehen aus einem anderen Blickwinkel betrachteten. Für die dritte Folge schreibt mein Mann gerade an einer fiktiven journalistischen Reportage. Ich bin schon sehr gespannt, was dabei herauskommt. Und es geht natürlich noch weiter …

Und mein persönliches Fazit zum Buch: Es lohnt sich nicht nur in Pandemie-Zeiten, Camus wiederzulesen. Das Buch ist mehr als nur die Beschreibung des Zustandes einer Stadt, die sich wegen einer Epidemie in Isolation und Abriegelung befindet. Es ist zugleich eine Allegorie auf den Krieg, indem es auf die „geistige Infektion“ hinweist, die die Menschen ebenso treffen kann, wie die körperliche. „Die Pest“ gilt nicht umsonst als der Schlüsselroman in Bezug auf die Résistance, die französische Widerstandsbewegung, die während des Zweiten Weltkrieges gegen die deutsche Besetzung kämpfte. Ihr gehörte auch der Autor an, der seinem Buch zwar einen definierten Ort – nämlich die Stadt Oran in Algerien, in der er selbst auch eine zeitlang gelebt hat – gibt, diesen aber wiederum verfremdet, indem er die Stadt als Ort ohne Grün und ohne Bäume beschreibt. Zeitlich legt er sich noch weniger fest: Gleich am Anfang gibt verlegt er die Handlung in das Jahr 194x, womit klar ist, dass das Geschehen eine überzeitliche Dimension hat. Und überzeitlich ist auch das Mittel, das der Arzt Dr. Rieux, der im Mittelpunkt des Romans steht, für die einzige Möglichkeit zur Überwindung der Pest hält: Liebe und Solidarität.

Ich schließe mit einem Zitat aus dem Roman, der für mich wie eine Quintessenz – auch aus unserer derzeitigen Lebenssituation – liest:

Zum ersten Mal konnte Rieux diesem gleichen Ausdruck, den er monatelang auf den Gesichtern aller Passanten wahrgenommen hatte, einen Namen geben. Jetzt brauchte er sich nur umzuschauen. Am Ende der Pest mit ihrem Elend und ihren Entbehrungen angekommen, hatten all diese Menschen schließlich das Kostüm für die Rolle angelegt, die sie schon seit langem spielten, die Rolle von Emigranten, deren Gesicht zuerst und deren Kleidung jetzt von der Abwesenheit und der fernen Heimat sprachen. Von dem Augenblick an, da die Pest die Tore der Stadt geschlossen hatte, hatten sie nur noch im Getrenntsein gelebt, waren sie von jener menschlichen Wärme abgeschnitten, die alles vergessen lässt. In unterschiedlichem Maße hatten sich diese Männer und Frauen an allen Enden der Stadt nach einer Vereinigung gesehnt, die nicht für alle gleich, aber für alle gleichermaßen unmöglich war. Die meisten hatten mit aller Kraft nach einem Abwesenden, nach der Wärme eines Körpers, nach Zärtlichkeit oder Gewohnheit geschrien. Manche litten, oft ohne es zu wissen, darunter, dass sie von der Freundschaft der Menschen ausgeschlossen und nicht mehr imstande waren, sie mit den normalen Mitteln der Freundschaft wie Briefen, Zügen und Schiffen zu erreichen. Andere, die seltener waren, wie Tarrou vielleicht, hatten die Vereinigung mit etwas herbeigewünscht, was sie nicht näher bestimmen konnten, was ihnen aber als das einzige erstrebenswerte Gut erschien. Und in Ermangelung eines anderen Namens nannten sie es manchmal Frieden. (Albert Camus, Die Pest, rohwohlt Taschenbuch, S. 338-339)

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